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Rausch der Verwandlung

(nach dem Roman von Stefan Zweig)

 

3. Akt, 2. Szene

 

 

Postamt. Franz tritt ein. Christine ist gerade dabei, das Amt für das Wochenende dicht zu machen, die letzten Papiere zu ordnen, Läden und Schränke zu verschließen. Zornig murmelt sie vor sich hin, ohne Franz zu bemerken.

 

Christine

Jämmerlich ist es … widerlich … in diesem Dreckloch hier … in diesem Dorfschlamm … Lebenslänglich eingekerkert mit dem ganzen primitiven Bauernpack … Ich hasse es … Ich hasse es!

 

Franz

Aber Fräulein Christine ...

 

Christine fährt herum, starrt ihn an.

 

Wenn ich irgendetwas für Sie tun kann … Ein wenig Ablenkung, ein Spaziergang vielleicht …

 

Christine

Danke, nein. Ich bin zu müde zum Spazierengehen.

 

Franz

Es würde Sie aufmuntern.

 

Christine

Ich hab hier noch zu arbeiten. Und dann diese Kopfschmerzen. Ich habe … Ach, suchen Sie sich’s aus.

 

Franz

Sie werden sehen … das wird schon wieder. Die Zeit heilt auch die schwersten Wunden …

 

Christine

Die Zeit? Die Zeit? Da, schauen Sie sich’s doch einmal an, Ihre Zeit!

 

Sie deutet auf die Uhr.

 

Ist dem Herrn Oberlehrer schon einmal aufgefallen, dass sie nicht vorwärts geht, die Zeit, sondern immer nur im Kreis läuft, immer den gleichen Weg, immer rundherum, ohne einen Schritt weiterzukommen, jeden Tag neu aufgezogen für denselben Dienst, für dieselbe Fron, für dieselbe ewige Erbärmlichkeit?

 

Franz

Wir sind doch alle ...

 

Christine

Wir sind doch alle gefangen im selben trostlosen Kreislauf: Ist es das, was Sie sagen wollen? Kostengünstig angeschafft, ein Leben lang abgenutzt und nach Gebrauch weggeworfen, ausrangiert wie ein kaputtes Möbelstück …

 

Franz

Ich meine … Wir sind doch alle …

 

Christine

Bedarfsartikel, ja, das sind wir. Einrichtungsgegenstände … Je weniger man’s spürt, dass man nur ein Ding ist, desto besser, nicht, Franz? Hauptsach, man pariert und funktioniert …

 

Franz

Nein … Ich … Wir sind doch alle recht traurig über den Verlust … Ihre Frau Mutter war so eine brave Frau. Ein Vorbild, ja, das war sie. Hat ihr Schicksal immer hingenommen, ohne Klagen, ohne Jammern.

 

Christine

Oh ja. So brav. So fleißig. So genügsam. So bescheiden.

 

Mit jedem ihrer Worte macht sie nun einen drohenden Schritt auf den Lehrer zu. Franz weicht zurück.

 

So fromm! So geduldig! So gottergeben! So unerträglich kleinbürgerlich wie manch ein anderer hier heraußen, unkühn, unwürdig, demütig, dünn, blass und zittrig, ein Vorbild mit gelben, schlecht plombierten Zähnen und schäbigen verdrückten Kleidern, mit gebeugtem Rückgrat und großen ängstlichen Augen, ein Vorbild!

 

Sie zieht die Landkarte hervor, die Franz für sie gezeichnet hat.

 

Ein kleiner Heiliger, der die ganze große Welt in Miniaturen zu fassen versucht!

 

Franz steht da wie ein geprügelter Hund, starrt zu Boden.

 

Es … Es tut mir Leid … Da, nehmen Sie, ich brauch’s nicht mehr … Ich fahr dort nicht wieder hin … Nie wieder … Es tut mir Leid …

 

Sie drückt ihm die Karte in die Hand. Senkt kurz den schuldbewussten Blick, macht dann auf dem Absatz kehrt und beginnt, die Lichter zu löschen. Geht schließlich zur Tür und wendet sich wartend dem Lehrer zu.

 

Wenn Sie jetzt die Güte hätten, Franz? Ich muss hier hinaus …

 

Franz

Aber … Was haben Sie denn jetzt vor, Fräulein Christine?

 

Christine

Ich fahre nach … nach Wien.

 

Franz

Wollen Sie Ihre Frau Schwester besuchen?

 

Christine wendet sich ab, sie spricht mehr zu sich selbst als zu Franz.

 

Christine

Ich muss hier hinaus. Einmal wieder hinaus … Und wenn’s auch nur für einen Tag ist.

 

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